Kili und ich führten zu München eine interessante Diskussion. Kurz gefasst ging es dabei um den Sinn resp. Unsinn eines Führerausweisentzuges nach einem Unfall (absichtliches Verschulden ausgeschlossen). Diese Massnahme wird heute beinahe bei jedem Vergehen in Erwägung gezogen, um den Schuldigen zu strafen und ihn einer Besserung zuzuführen, resp. den Verkehr sicherer zu machen.
Dazu folgende – teils bereits einmal ähnlich erläuterten – Überlegungen meinerseits, welche sich grob in drei Kapitel unterteilen lassen:
1. Wie kam es zum Unfall?
In komplexen, (eng) gekoppelten Systemen gibt es keine sogenannte “root cause”. Es hilft nicht, nach der einen, ausschlaggebenden, alles verursachenden Handlung zu suchen, denn man wird sie nicht finden. In den genannten Systemen gibt es verschiedene Faktoren, Umstände und Einflüsse, beeinfluss-, kontrollier- und/oder steuerbar oder nicht. Es gibt verschiedene “Teilnehmer”, die z.T. unabhängig voneinander, vom jeweils andern oftmals unbemerkt, agieren, dessen Wahrnehmung, Verhalten und Ergebnis aber doch in irgend einer Form und in irgend einer Abhängigkeit, d.h. mal sehr stark, mal weniger, etc. beeinflussen.
So ist es einfach zu sagen, dass Autofahrer A schuld ist, weil er Motorradfahrer B nicht gesehen habe. Ebenso einfach ist es mitzuteilen, dass die Zürcher Autofahrer ihr Fahrverhalten nicht den Verhältnissen angepasst haben und es deshalb während der Glatteissaison zu vielen Unfällen kam. Der Haken: Beide Aussagen erklären nichts und sind nicht die ganze Wahrheit. So wird im ersten Fall nicht ermittelt, ob es Autofahrer A überhaupt möglich war, Motorradfahrer B zu sehen. Es wird nicht erläutert, ob Motorradfahrer B sich “korrekt” verhalten hat. Es wird nichts über die Umstände (Tageszeit? Lichtverhältnisse? Verkehrsaufkommen? Etc.) gesagt. Im zweiten Fall wird nicht erläutert, weshalb die Leute das Fahrverhalten möglicherweise nicht angepasst hatten. Es wird nicht erwähnt, dass morgens und abends der Verkehr um Zürich stillstehen würde, wenn jeder Verkehrsteilnehmer alle Regeln und Empfehlungen einhalten und umsetzen würde. Es wird nicht erwähnt, dass die Zürcher während der letzten Jahre auf den Autobahnen gar nie mehr unter echten Winterbedingungen fahren “konnten”, da soviel gesalzen wurde und wird wie in keinem andern Kanton. Es wird nicht erwähnt, dass der Zürcher Verkehr ganz generell “aggressiver” von statten geht als anderswo. Es gäbe noch weitere Punkte, aber es wird klar, dass es zu einfach ist, solche Vorkommnisse mit einer einzigen Ursache zu beschreiben.
2. Was ist Schuld? Wer ist schuld?
In komplexen Systemen ist Schuld etwas, das wir im Nachhinein und im Wissen um das Ergebnis der Situation konstruieren. Das selbe Verhalten eines Autolenkers ohne Unfallfolge, d.h. in 99 von 100 Fällen, hat keinerlei Schuldsuche oder gar -zuweisung zur Folge. Man würde wahrscheinlich gar das Misserfolgspotential des fraglichen Verhaltens übersehen. Zudem darf man davon ausgehen, dass der in einen Misserfolg involvierte Lenker mit Sicherheit anders gehandelt hätte, hätte er das selbe Wissen gehabt, wie wir’s jetzt haben.
Wieso sind wir dann trotzdem so scharf auf “Schuld”? Es gibt zwei Antworten. Einerseits braucht es einen Schuldigen, um versicherungstechnische Fragen zu klären, gesellschaftlichen Forderungen zu entsprechen oder aber schuldlose Elemente auszusortieren resp. zu rehabilitieren. Andererseits ist das Finden eines Schuldigen von höchster, emotionaler Qualität: Es ist angenehm zu erfahren, dass bei einem Autounfall die nasse Strasse schuld war, denn daraus folgernd muss das Fahrverhalten nicht weiter hinterfragt werden. Oder es ist beruhigend zu wissen, dass der Pilot einen Fehler gemacht hat, ansonsten müsste die Sicherheit der Aviatik in Frage gestellt werden.
3. Was bringt ein Ausweisentzug? Wird der Verkehr dadurch sicherer?
Meine Thesen: Nichts. Nein.
Was bringt ein Ausweisentzug? Es ist ein Signal gegenüber der Gesellschaft, dass man etwas gegen “das Übel” unternommen hat. Und es ist eine Machtdemonstration des Staates dem Schuldigen gegenüber: “Du warst böse, also sollst Du büssen.” (auch wenn Recht nicht immer recht hat). Beide Ansätze haben ihre gesellschaftliche Legitimität, entbehren aber einer gewissen Logik. Oder was wurde für die Sicherheit des Verkehrs getan, wenn man einen über 15 Jahre “fehlerlos” fahrenden Automobilisten zum Fussgänger macht, weil er angeblich einen Unfall verschuldet haben soll? Wird sich der Bestrafte nach der Strafzeit besser und sicherer verhalten, oder wird er ängstlicher agieren, um nicht nochmals den Ausweis zu verlieren?
In Wirklichkeit wurde nichts unternommen, um ein ähnliches Vorkommnis zu verhindern (versuchen). Es wurde nichts unternommen, den “schlechten” zu einem “besseren” Autofahrer zu formen. Es wurde nichts – und dies sollte eigentlich das Hauptanliegen sein – für die Sicherheit des Systems getan. Anders als in vielen anderen Zweigen der heutigen Gesellschaft (Atomenergie, Aviatik, Schienenverkehr, Petrochemie, Medizin, etc.) werden im Alltagsverkehr keine Ressourcen bereit gestellt, um Vorfälle genauer zu analysieren und allfällige Konsequenzen zu ziehen. Die Rechtsordnung wird nicht angetastet, geschweige denn in Frage gestellt. Man bleibt bei der “Holzhammermethode”. Dafür gibt es – natürlich – verschiedene Erklärungen, von mir aus gesehen aber keine, welche einer ernsthaften Prüfung hinsichtlich Nutzen und Nachhaltigkeit standhalten würde.
So, war etwas viel, aber danke fürs Lesen. Jetzt dürfte ihr loslegen… 😉
Ein Unfall schliesst ein absichtliches Verschulden zwingend aus. Der Rest stimmt so 🙂
Danke Elwood, stimmt. 😉
Mein Ansatz war z.B. der des zügig fahrenden Zeitgenossen, welcher mit 190km/h dahinbrettert und danach in einen Unfall verwickelt wird. Möglicherweise müsste man in diesem Falle aber das Wort “Unfall” ersetzen. Oder aber das Wort “absichtlich”, denn beim Schnellfahrer ist wohl das Wort “grobfahrlässig” eher angebracht.
Der Ausweisentzug ist nicht ein Therapiemittel sondern dient der Prävention. Nicht der unfreiwillige Fussgänger wird ein besserer Verkehrsteilnehmer sondern alle andern fahren vorsichtiger „wenn ich nicht aufpasse geht es mir so wie dem…“. Spannend wäre zu wissen was die Voraussetzungen sind damit ein Unfall zu einem Ausweisentzug führt…?
Das müsste aber dann in letzter Konsequenz bedeuten, dass die Zahl der Ausweisentzüge jährlich abnimmt und irgendwann keine Ausweise mehr entzogen werden (müssen)?!
Die abschliessende Frage ist interessant. Mindestens ebenso spannend wäre aber zu wissen, wer darüber entscheidet. So beurteile ich z.B. eine Aktion als “fahrlässig”, welche für eine andere Person davon weit entfernt ist, und umgekehrt. Der Involvierte wird die Situation z.B. sicherlich anders beurteilen als ein Richter anhand schriftlicher Daten in einem Büro.
Hm, ein schönes Diskussionsthema, nicht?! 😉
So wie ich das interpretiere können Zürcher nicht Autofahren. Demzufolge ist es sinnvoll ihnen präventiv den Ausweis zu entziehen…
Interessant ist ja auch, dass über 60% der Autofahrer/innen glauben besser zu fahren als der Rest.
Interessant ist auch, dass über 60% (oder eher 90%…) aller Berner Autofahrer normalerweise keine Zürcher in Sachen Verkehrsfragen in Schutz nehmen.
Ist das Emmental eigentlich noch BE oder schon AG ???
Ok, böses Foul.
In Sachen Verkehrsfragen nehme ich niemanden in Schutz. Aber ich würde auch keinen Freiburger um Rat fragen…
Foul??? Vancouver ist vorbei! Aber vielleicht sollte weniger Pingu-Kassetten in Züri-Dialekt hören…